Inhalt
Die 26-jährige Louise Clark arbeitet als Kellnerin in einem kleinen Café, in einer kleinen Stadt in England. Auf den ersten Blick scheint sie ganz zufrieden mit ihrem Leben zu sein, denn das Kellnern macht ihr Spaß und ihre Familie steht immer hinter ihr. Als das Café schließt und sie ihren Job verliert, bricht für sie eine Welt zusammen und ihre Perspektiven sehen alles andere als rosig aus.
Als der 35-jährige Will Traynor verunglückt, weiß er, dass sein Leben niemals wieder so sein wird, wie es vor dem Unfall war. Er weiß, dass er dieses Leben nicht führen möchte und er versucht alles, um aus diesem Leben zu flüchten.
Lou und Will begegnen sich, als Lou einen Job bei Will angeboten bekommt und keiner von beiden ahnt, dass der jeweilig andere, das eigene Leben verändern wird…
Erster Satz des Buches
„Als er aus dem Bad kommt, ist sie wach, hat sich gegen das Kopfkissen gelehnt und blättert durch die Reiseprospekte, die neben seinem Bett gelegen haben.“
Fazit
„Ein ganzes halbes Jahr“ ist ein Roman der Autorin Jojo Moyes. Durch die vielen Rezensionen bin ich schon vor langem auf dieses Buch aufmerksam geworden, irgendwas hat mich jedoch immer daran vorbeigehen lassen. Zu Ostern bekam ich dieses Buch dann von meinem Freund geschenkt (der wohl nicht mehr mitansehen konnte, wie ich um den Roman herumschlich 😀 ) und gleich darauf begann ich auch schon zu lesen.
Schon zu Beginn wurde mir recht schnell klar, dass ich hier nicht das bekam, was ich erwartete: keine seichte Liebesgeschichte, mit ein paar mehr Hindernissen als normal, keine Schnulzerei und vorallem keine Happy-Family-Lektüre, viel mehr ein Roman, der ernste Themen wie Behinderung und Freitod behandelte, zerrüttete Verhältnisse und einem Menschen, dem jeglicher Überlebenswille abhanden gekommen ist. Anfänglich erinnert mich die Szenerie doch sehr stark an „Ziemlich beste Freunde“, denn auch hier haben wir es mit einem Menschen zu tun, der auf Grund seiner starken Behinderung (Lähmung aller 4 Extremitäten = Tetraplegie) eine Pflege-/Hilfskraft benötigt und jemanden bekommt, der davon weder Ahnung, noch große Lust dazu hat. Die Hauptprotagonisten beider Romane wirken herrisch, zynisch und völlig unnahbar, tauen jedoch im Laufe der Handlung auf und auch die zuvor ungeschickten Helfer gewinnen zunehmend an Sicherheit. Trotzdem unterscheiden sich die beiden zunehmend und auch Lou hat mit dem Pfleger Driss aus „Ziemlich beste Freunde“ letzendlich nur wenig gemein.
Als uns Louisa „Lou“ Clark das erste Mal begegnet, scheint sie eine zufriedene junge Frau zu sein, deren Leben in eher geregelten und ruhigen Bahnen abläuft. Seit 7 Jahren hat sie denselben Freund, wohnt immernoch bei ihren Eltern und arbeitet seit Jahren im selben Café. Als dieses schließen muss, bricht für Lou eine Welt zusammen und jeglicher Versuch einen neuen Job zu finden, scheitert kläglich. Die 26-jährige fällt in ein tiefes Loch und nur die Aussicht auf einen Job bei einem Schwerstbehinderten lässt sie etwas aufatmen. Anfangts traut sie sich diese Tätigkeit überhaupt nicht zu und zweifelt massiv an ihren Fähigkeiten, doch im Laufe der Zeit findet sie sich dann immer besser zurecht und entwickelt eine gewisse Routine. Gerade zu Beginn gewinnt der Leser der Eindruck, dass Lou zu nichts anderem in der Lage ist, als Sandwichs zu servieren und Tee zu kochen, doch man verkennt dabei ihre Intelligenz und ihre Fähigkeiten. Zwar wirkt sie unbeholfen und ungeschickt, doch aus der Tatsache heraus, dass sie sich um einen mehr oder weniger vollständig Gelähmten kümmern muss und quasi „keine Ahnung von dem hat, was sie tut“, verzeiht man ihr diese Unpässlichkeit schnell. Auch ihre Berührungsängste stehen ihr dabei ein wenig im Weg, doch wenn man erst einmal erfahren hat, wieso sie darunter leidet (wobei das eher eine Spekulation von mir war), versteht und akzeptiert man auch das ohne weiteres. Im Laufe des Romanes macht sie eine wahnsinnige Entwicklung durch und wenn wir das Buch zuschlagen, so entlassen wir eine junge Frau in die Freiheit der Welt, die sich nicht nur grundlegend verändert hat, sondern sich und das Leben im allgemeinen wohl in Zukunft wohl mit anderen Augen sehen wird. Ich persönlich konnte mich mit Lou sehr stark identifizieren und fand sie sehr sympathisch, was vermutlich auch daran lag, dass sie über eine erfrischende Offenheit verfügt, die in unserer Gesellschaft oft nicht gebilligt wird, denn Höflichkeit geht der Ehrlichkeit wohl voraus. Ihre Gefühlswelt und vorallem auch ihre Unsicherheit waren greifbar und absolut menschlich, sodass man das Gefühl haben konnte, einem reellen Wesen gegenüberzustehen, mit echten Problemen und einer realistischen Lebenssituation.
Will begegnen wir schon auf der ersten Seite des Romans, wir erleben ihn zu Zeiten vor seinem Unfall und bekommen einen klitzekleinen Einblick in sein Leben vor dieser schrecklichen Tragödie. Er befindet sich zu diesem Zeitpunkt in einem Hotel, seine Freundin an seiner Seite und bereitet sich auf die Arbeit vor. Als er das Hotel verlässt und ein Taxi nehmen will, wird er von einem Motorradfahrer angefahren und ist von nun an ab dem Hals abwärts gelähmt (=Tetraplegiker). Vor seinem Unfall war Will ein erfolgreicher Geschäftsmann, attraktiv, beliebt und immer auf Achse. Kaum eine Sportart ließ er aus und vor nichts, was auch nur ansatzweise Spaß machen könnte, machte er halt. Auch wenn wir uns sicherlich nicht mal im Ansatz vorstellen können, wie schrecklich es sein muss, vom einen auf den anderen Moment komplett gelähmt zu sein, so lässt es sich doch stellenweise nachempfinden, wie frustriert, lebensmüde und depressiv ein Mensch sein muss, der alles im Leben verliert, was ihm jemals wichtig war. Will ist in allen Lebenslagen abhängig von einem anderen Menschen und die meisten Lebenssituationen lassen sich nur mit Hilfe bestreiten, was ihn, verständlicherweise, ziemlich mürrig und eigen werden lässt. Im Laufe des Romanes verändert sich Will und doch bleibt er irgendwie die ganze Zeit derselbe Mensch, zu dem er seit dem Unfall geworden ist. Wir erleben Zeiten der Fröhlichkeit, des Wohlbefindens und seiner guten Launen, aber auch Zeiten des „sich-aufgebens“, des Schweremutes und der totalen Depression. Als wir Will näher kennenlernen dürfen, fällt dann auf, dass es sich bei dem schwerstkranken Mann um einen intelligten, sarkastischen, aber wahnsinnig humorvollen und sympathischen Mann handelt, der im Grunde seines Herzens nichts lieber möchte, als sein altes Leben zurück.
Will und Lou zusammen zu erleben, wie sie beide Fort- und Rückschritte machen, wie sie sich verwandeln, zusammen lernen und die schönsten und schlimmsten Momente durchmachen, das trifft einen wirklich ins Herz. Die eigentlich „Lovestory“ auf die einjeder wartet, tritt erst ganz am Schluss auf und der Gang dorthin ist lang und beschwerlich. Aber gerade aus dieser Tatsache heraus wirkt dieses Buch sympathisch, ehrlich und nachvollziehbar, ganz im Gegensatz zu vielen anderen Liebesromanen. Liebe braucht Zeit sich zu entwickeln, sich zu entfalten und um wahrgenommen zu werden und entsteht im Regelfall nicht über Nacht, wie uns die Literatur oft weismachen möchte. Wir leiden, lieben, lachen und weinen mit den beiden, genießen wundervolle Konversationen, Neckereien und spöttische Bemerkungen und dürfen an etwas ganz großem Teilhaben, was uns jedoch erst sehr spät bewusst wird.
Will’s Pfleger Nathan begleitet uns das ganze Buch hindurch und wirkt dabei stets professionell und sympathisch. Auch wenn er uns oft begegnet, wissen wir nur wenig über ihn, doch er erledigt seine Arbeit stets gewissenhaft, ist diskret und würde alles tun, um Wills Gesundheit zu garantieren. Durch seine Unterhaltungen mit Will, die sich oft genug auch um völlig normale Themen drehen, scheint Will oft das Gefühl zu haben, „normal“ zu sein und sich ein bisschen aus der Welt zu entfernen, in der er Leben muss. Nathan behandelt ihn völlig normal und oft sieht man in ihm eher einen Kumpeltyp, als eine Pflegeperson.
Wills Eltern, wie auch die von Lou, ihre Schwester Treena, ihr Großvater und ihr Neffe Thomas begegnen uns oft und gewähren uns einen tiefen Einblick in die Familienverhältnisse. Während Wills Eltern gut betucht, und ihre Ehe eigetnlich schon gescheitert ist, sind Lous Eltern scheinbar glücklich verheiratet, Schwester Treena wohnt, genau wie Lou, noch zuhause und ein idyllisches, wenn auch eher spartanisches Familienleben liegt an der Tagesordnung. Auch wenn es zwischen Lou und Treena mehr als einmal Streit gibt, so verstehen sich die Schwestern doch gut und suchen oft Rat beim jeweilig anderen. Lous Freund Patrick war mir von Anfang an eher unsympathisch und ich wünschte mir eigentlich die meiste Zeit, dass sie ihm den Laufpass gibt. Patrick wirkt egoistisch, selbstsüchtig und hat keinen Sinn für Lou’s Arbeit und seine Fitnesstrainer-Karriere, sowie der eigene Erfolg im Sport sind ihm bedeutend wichtiger.
Jojo Moyes schafft es in diesem Roman, heikle Themen gekonnt aufzugreifen und den Leser behutsam daran zu führen, sodass man, wenn man dahinter kommt, schon viel tiefer drinsteckt, als einem tatsächlich bewusst war. Diesen Roman frei von Emotionen zu lesen ist nahezu unmöglich, denn sie sind allgegenwärtig und ziehen einen in den Bann, aus dem man sich – wenn man ehrlich zu sich selbst ist – auch gar nicht mehr lösen möchte. Im Anschluss an dieses Buch habe ich viel nachgedacht, etwas recherchiert und mich mit Themen befasst, über die ich bis dato noch niemals nachgedacht hatte. Dieser Roman berührt einen nicht nur beim Lesen, sondern weit darüber hinaus, greift vielleicht sogar in unseren Alltag ein und lässt uns nicht nur das Leben und Sterben in unserer Welt und unserer Gesellschaft näher beleuchten, sondern auch den Umgang mit Behinderung und Krankheit neu überdenken. Ich für meinen Teil kann nur sagen, dass ich mit „Ein ganzes halbes Jahr“ ein Buch, eine Geschichte, geschenkt bekommen habe, die mich noch lange begleiten wird und die mich meinen Blick auf einige Dinge verändern ließ.
Wertung: 5 von 5 Sterne!
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